Biss zur letzten Rübe – Landlieblingsplätzchen (Juli 2022)
Stadtleben // Artikel vom 01.07.2022
Menschen, die nach Reihern geiern
Eine Kolumne von Johannes Hucke, der seit 2007 die Region mit seinen Weinlesebüchern, Kriminalnovellen und Theaterstücken malträtiert. Jetzt versucht er, INKA mit epikureischem Gedankengut zu destabilisieren. Nach einem Jahr Karlsruher Gourmet-Szene balanciert Hucke nunmehr auf den Strahlen der Kompassrose ins Offne. Während der klassische „Tagesausflug“ einst einen durchaus bedrohlichen Beiklang hatte, heißt das heute ODV: One Day Vacation! Gegenüber einer Flugreise nach Paumotu bietet der Ein-Tages-Urlaub jede Menge Vorteile: Er ist kostengünstiger, du kannst den Genusspegel schon vorab nach Belieben einstellen, und wenn du mal abstürzt, dann höchstens in die Arme deines Lieblingskellners.
„Brotkardoffle mit Schaumes: schmegguud.“ Hierbei handelt es sich um die einzige überlieferte Privatäußerung meines Kollegen UH. Es wird auch keine mehr dazukommen, da er, pflichtbewusst wie er war, kurz vor der Rente von uns ging. Dass er Pfälzer war, sollte nun irgendwie zu einem geistreichen Übergang führen, um an unseren Juni-Urlaub zu erinnern. Da waren wir ja in der Südpfalz. Aber die Leute dort sind goldig und plappern den ganzen Tag. Kurzum, mir fehlt es an Witz, um eine Verbindung zu unserem UH herzustellen. Ich kapituliere… und fange ganz woanders von vorne an: dort, wo niemand hinwill. Wir verreisen heute nämlich ins Flachland, ins Niemandsnichts zwischen Rhein und Kraichgau. Und beginnen zu allem Überfluss in einem Gewerbegebiet. Was? Keine Lust? Solltet ihr aber! Es kommt grandios.
Bitte nicht vergessen: pro Person ca. ein Fahrrad und mindestens ein Screwpull-Flaschenkühlpäck, den Picknickkorbinhalt müsst ihr teilen. Jetzt eine S-Bahn erklimmen, die euch ungefähr nach Bad Schönborn bringt. Warum? Abwarten. Es gilt, Richtung Obere Lußhardt zu radeln. Boah, ist das hässlich hier: Kreisverkehrslärm, Wellblech, einfallslose Ausfallstraßen (toller Bandname!) – und dann seid ihr da. Und werdet Zeuge, dass ich zum ersten Mal in meinem diesigen Schreiberleben folgendes Adjektiv verwende: Außerhalb von Österreich existiert nur ein einziges cooles Weingut, und das heißt Bosch, und Nadine und Andreas Braunecker nennt sich das Winzerpaar, das inmitten der Kleinindustrie einen Exklusivzugang zum Garten Eden geschaffen hat. Aber Achtung, wenn ihr jetzt anfangt, euch durch die komplette Liste zu probieren, kommt ihr nie in die Wagbachniederung. Wohin? Abwarten. Jedenfalls müsst ihr den Auxerrois mitnehmen; der fühlt sich an, als ob euch eine Baumnymphe einen selbstgewundenem Blütenkranz aufs Häuptchen drückte. Für die Kuschelstunde empfehle ich einen Grau & Weiß, der schmeckt nach Sommersonnenuntergang und Haus am See und geglücktem Leben. Falls Nadine oder Andreas euch noch einen Schluck Riesling aufdrängen: nicht nein schreien! Denn allhier bei Bad Schönborn tut sich Ungeheuerliches in der Erde: Rieslingfreundlicher Schiefer wölbt sich der Rebe entgegen, und das Ergebnis ist der Wahn. Allenfalls Mosel und Nahe können da mithalten. Ach so, ihr habt ein Kindchen dabei? Oder gar mehrere? Die Profischorle „Winzerskind“ am besten gleich im Sixpack einsacken!
Doch weiter. Wie von Zauberhand hat sich ein Cicerone von höchsten Gnaden uns beigesellt: Tom Rebel, Computerkunstpionier, und der Wyatt Earp unter den Fotografen-Pistoleros. Ihm gebührt die Ehre, besagte Wagbachniederung für uns entdeckt zu haben – und da fahren wir jetzt hin. Durch unsagbar ebene Wälder, immer gen Westen, bis wir Waghäusel erreicht haben. Urlaub in Waghäusel!? Wenn ihr das irgendwem erzählt … Unterwegs gibt es bestimmt dufte Waldspielplätze; ich hab mir jetzt nicht die Mühe gemacht, welche zu recherchieren. Mein Kind wird erst wieder so was aufsuchen, wenn es selbst eins hat.
Waghäusel also. Historisch Geschulte zucken zusammen. Ja doch, hier ging Badens Freiheit verloren, 1849… und wie zum Hohn und Spott erbaute die örtliche Zuckerindustrie zwei fette Silos der Eremitage ins Angesicht. Man bedenke: Balthasar Neumann! Immerhin, die feisten Türme sind inzwischen gesprengt, die Barockfassade liegt wieder frei, und dem ästhetischen Gesamterlebnis steht nichts im Wege. Schon mal gar nicht die Marienwallfahrtskirche samt Kloster: Wenn ihr Neigung verspürt, gläubig zu werden: Dort klappt das bestimmt. Und mit Geschick seid ihr in ein paar Minuten in das angekündigte Vogelschutzgebiet gerollt. Tom Rebel bittet um Rücksichtnahme – nicht auf ihn, das wäre er gar nicht gewöhnt, sondern auf die Abertrillionen von Sing- und Summ- und Flattervögel, die sich der einstigen Melasse-Klärteiche der Südzucker AG wegen hier versammelt haben.
So windet denn schweigsam das Picknick aus dem Körbchen, stoßt nur leise, leise mit den Gläschen an (übrigens, auch der Müller-Thurgau würde sich hier gut machen) und staunet, staunet, wie sich der Purpurreiher ins Silberwölkchenblau erhebt, die Lachmöwen in einer Endlosschleife „An der Nordseeküste“ spielen, die Gelbe Fetthenne ihren Flug watschelnd über der Wasserfläche startet. Halt, die zählt zum Reich der Dickblattgewächse. Aber vielleicht wächst die hier auch irgendwo. – So, zeigt mal: Was habt ihr drin im Körbchen? Wie? Kein Gaddebrot? Komisch. Hierzu bedarf es nur einer dick geschnittenen Scheibe frischgebackenen Brotes, das mit dem frischesten Frischkäse wo’s gibt bestrichen wird, und darauf streuselt ihr die gewürfelten Radieschen, Gürkchen, Läuche und so, auch Rucola-Fetzen, Pfeffer und Kräutersalz… und wenn ihr’s gut meint, auch vom gestückten Hand- oder Münsterkäse, vorher in etwas Weinlein mariniert. Alles lässt sich leicht transportieren und klebt auf dem Untergrund gut fest. Bis auf manchmal, wenn besagter Käse abstürzt und längs übers Sommerkleidchen kullert. Nicht unwichtig: Der Bahnhof für die Rückreise liegt sehr in der Nähe. Und falls das Picknick nicht gereicht hat, zeigt sich die Ortsgastronomie gewiss gnädig. Hoffentlich macht die Altdeutsche Weinstube in Kirrlach bald mal wieder auf!!! Vielleicht gibt’s da Brotkardoffle mit Schmaumes.
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