Moskau steht Kopf

Kunst & Ausstellungen // Artikel vom 28.11.2012

Wer die letzten Wochen das Museum für Neue Kunst besuchte, blickte verwundert auf Kisten, die im Erdgeschoss (scheinbar) wahllos herumstanden, abgedeckt von einer semitransparenten, über die beiden Lichthöfe gespannten Decke.

Des Rätsels Lösung: Es handelt sich um Projektionsflächen für die Ausstellung „Ein Sechstel der Erde“ – jene Fläche, die früher von der Sowjetunion eingenommen wurde. So viel Luftigkeit war bei einer Video-Ausstellung noch nie! Sie erlaubt Bezüge zwischen den Videos, die bei abgeschlossener Box für sich allein stehen würden.

Und deutlich wird: Der Ostblock hat in den vergangenen Jahren, fast unbemerkt vom Westen, eine Film-Avantgarde hervorgebracht, die den Vergleich nicht zu scheuen braucht. Gleich am Anfang begrüßt uns Dmitry Gutovs Fahrt durch Moskau – sie ist aber verkehrt herum projiziert. Oder sind es unsere Ideen, die hier fehl am Platz sind?

So oder so ist der Film eine schöne Umschreibung für die Beziehung des Bildes zur Welt, die ausgelotet werden soll. Es sind Filme über die politisch-historischen Veränderungen, die nach der Auflösung des Ostblocks stattfanden. Die Künstler thematisieren aber nicht nur sie, sondern auch die Umweltver­schmutzung und einige wenige auch das Geschlechterverhältnis in den postkommunistischen Staaten.

Da gibt es den hypnotischen Film „Riverglass“ von Andrej Zdravic, der den Jahresverlauf unter Wasser gefilmt hat, während Ghenadie Popescu, eingekleidet in denselben Plastikstoff wie das überdimensionierte Papierschiff, das er durchs Wasser zieht, die Flussverschmutzung in Moldawien thematisiert. Mit einer Art Ballett-Inszenierung weist Victor Alimpiev in reduzierten Farben auf die Bedeutung von Symbolen hin. So entsteht ein bewegtes Historienbild, das – wie die vergangenen Symbole – längst verblichen ist.

Als genüge das nicht, wird parallel in „Better Books“ ein Blick in die Vergangenheit ermöglicht: in jenen Nukleus im Keller des gleichnamigen Buchladens, in dem Künstler, Literaten, Filmemacher und Musiker die 68er Revolution vorwegnahmen und Flower Power den Boden bereiteten. Es ist eine archivalische Ausstellung, für die viel Zeit nötig ist – nicht nur, um sich in die Dokumente einzulesen und hineinzuvertiefen, sondern auch, um sich in die damalige Zeit zu imaginieren. Einige „alte Bekannte“ kommen auch hier wieder vor, wie William S. Burroughs, der mit seiner „Cut Up“-Methode die Künstler beeinflusste, und Allan Ginsberg, der hier eine Lesung durchführte. Den Film kann man bei den beiden Ausstellungen als Klammer zwischen den Zeiten, den unterschiedlichen Traditionslinien verstehen, wobei deutlich wird, dass Avantgarde immer schon das Gleiche wollte: künstlerisch auf Dinge hinweisen, unsere Umwelt so stark verfremden, dass wir anfangen, über uns selbst nachzudenken.

Wie wichtig Schen­k­ungen in Zeiten rückläufiger Ankaufsetats für Museen sind, darauf lenkt das ZKM in einer kleinen Sonderschau im 2. OG zusätzlich den Blick. Denn in Präsentation werden ausgewählte Geschenke an das ZKM gezeigt, von Künstlern, Institutionen und von privaten Donatoren. Sie haben damit die hauseigene Sammlung (neben Ankäufen) auf rund 1600 Kunstwerke anwachsen lassen. Darunter sind Hochkaräter von Albert Oehlen (Ohne Titel, 1994, Schenkung Werner-Stober-Stiftung/Foto) oder  Robert Rauschenberg (Nightblind1988, Schenkung Wilhelm und Marie-Luise Boll). -ChG

Better Books: bis 6.1.13, Präsentation: bis 10.2.13, Ein Sechstel der Erde: bis 1.4.13, ZKM | Museum für Neue

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