XX. Baden-Württembergische Theatertage
Bühne & Klassik // Artikel vom 27.06.2011
Die Baden-Württembergischen Theatertage, die alle zwei Jahre an einem anderen Ort stattfinden, feiern 2011 ihren 20. Geburtstag.
Nirgendwo sonst kann man die facettenreichen schauspielerischen Handschriften im Land in komprimierterer und unterhaltsamerer Form kennenlernen als bei diesem Festival, zumal der Fokus weniger auf großen, altbekannten Klassikern, sondern vermehrt auf jungen neuen Stücken und Uraufführungen liegt. Elisa Reznicek gibt einen Überblick über das Gesamtspektakel und hat Schauspielchef Knut Weber interviewt.
Stadtraumprojekte, Vorträge, Beschwerdechor
Karlsruhe ist unter der Federführung des Badischen Staatstheaters Gastgeber und Ausrichter des hochkarätigen Festivals, das sich so breit gefächert und bunt präsentiert wie die Szene Baden-Württembergs. Unter dem Motto „Ungerecht“, das sich als Themenschwerpunkt in den über 40 Stücken widerspiegelt, die vom 1.-10.7. gezeigt werden, gastieren die 17 im Deutschen Bühnenverein des Bundeslandes vertretenen Theater sowie zehn Kinder- und Jugendtheater in der gesamten Stadt des Rechts. Neben dem Schauspiel- und Opernhaus und der Insel sind unter anderem auch das ZKM Medientheater, die Nancyhalle und sogar Gerichtssäle als Spielstätten dabei.
Um auf den Event einzustimmen, finden ab Ende Juni diverse Stadtraumprojekte in eben diesem statt, so die mobile Produktion des Berliner Spezialisten für dokumentarisches Theater, Hans-Werner Kroesinger: Unter dem Titel „Karlsruhe – Stadt der Gerechten“ wird mit einer Straßenbahn vom 26.6.-9.7. die Topografie der Gerechtigkeit in der „Residenz des Rechts“ erkundet (26.6.-9.7.). Ganz unmittelbar und wörtlich zu verstehen ist das „Recht auf Zuruf“ (24.6.-2.7.), bei dem die Karlsruher verbal aktiv das Geschehen beeinflussen können.
Studenten der HfG haben nicht nur das grafische Erscheinungsbild der Theatertage entwickelt, sie gestalten auch den Theatervorplatz und die Foyers zu Orten um, die das Motto „Ungerecht“ erlebbar machen. Und vielleicht erst mal Irritationen auslösen: Vor der Bühne auf dem Theatervorplatz können alle nicht mehr gebrauchten Stühle ein Zuhause finden. Ob Ohrensessel oder Holzhocker, je mehr, desto besser. Daneben starten während der Theatertage weitere Aktionen, die alle Karlsruher zur Teilnahme auffordern.
Der „Kultur imBiss“ im stillgelegten Kiosk hinter dem Konzerthaus soll als der Ort der freien Meinungsäußerung fungieren, Passanten können hier Videointerviews zu allem, was sie bewegt, geben. Auf der Linie 5 verkehrt zwischen den Spielorten der Theatertage eine schwarz verkleidete Bahn: Schwarzfahren ohne schlechtes Gewissen. Und statt Schönrednern ziehen während der zehn Tage Festival „Schwarzredner“ durch die Stadt und tun kund, was schlecht ist.
Auch das weitere Rahmenprogramm der Theatertage beschäftigt sich eingehend mit dem Thema „Recht und Unrecht“ und bietet neben zahlreichen Partys und Late-Night-Events auch viel Hintersinniges. Die Frage nach der Gerechtigkeit, wird in Vorträgen, Symposien, interdisziplinären Projekten und Mitmachaktionen aufgedröselt. Schon die Eröffnung des Festivals am 1.7. ist richtungsweisend: Für den Karlsruher Beschwerdechor hat der Jazzkomponist Wolfgang Klockewitz die bei der „Beschwerdestelle“ der Theatertage eingegangen großen und kleinen Klagen der Bürger vertont: Ab 15 Uhr wird die eigentlich negative Energie durch die Musik zum Positiven gewendet. Die quer über die Stadt verteilten Ensembles wandern abends zum Staatstheater, wo auch der Festakt (1.7., 17 Uhr) und die große Eröffnungsparty (21 Uhr, Theatervorplatz) stattfinden.
Ein Extra-Tipp geht an das Symposium „Copy & Paste“ zum Urheberrecht, bei dem u.a. Peter Weibel, Jürgen Drescher vom Suhrkamp-Verlag und Constanze Kurz vom Chaos Computer Club teilnehmen (So, 10.7., 11 Uhr, ZKM). Da die Nachfrage nach Tickets besonders in den Spielstätten des Staatstheaters groß ist, wird VVK empfohlen.
Stücke im Abendprogramm
Den Reigen der heiß begehrten Stücke im Abendprogramm eröffnet nach dem Festakt im Badischen Staatstheater (17 Uhr) eine Inszenierung von Georg Büchners „Dantons Tod“ (Schauspiel Stuttgart), das als Lehrstück der Geschichte zugleich auch im aktuellen Kontext von Brisanz ist. Der Mensch strebt nach Vorteilen, Macht, politischen Geschicken, nicht nur inmitten der Französischen Revolution, die hier den Rahmen bildet – doch was ist richtig, was ist falsch? (Fr, 1.7., 20 Uhr, Schauspielhaus). Eine Frage, die sich auch die Grünen im Laufe ihrer Partei-Karriere immer wieder gestellt haben dürften. Das Projekt „Die Grünen. Eine Erfolgsgeschichte“ (Theater Freiburg) von Jarg Pataki und Viola Hasselberg widmet sich trotz des Titels beiden Seiten der Medaille (Fr, 1.7., 20 Uhr, ZKM).
Das Musical „Big Money“ von Peter Lund und Thomas Zaufke ist mehr ein Wirtschaftskrimi denn jene leichte Unterhaltung, die dem Genre gern nachgesagt wird – seit Mai als Uraufführung auch regulär am Badischen Staatstheater zu sehen (Sa, 2.7., 20 Uhr, Schauspielhaus). Nis-Momme Stockmanns „Der Mann der die Welt aß“ erhielt den Autoren- und Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts 2009 und erzählt davon, wie ein gieriger, selbstbezogener Typ Stück für Stück alles verliert – fressen und gefressen werden (Sa, 2.7., 20 Uhr, ZKM).
Die Badische Landesbühne Bruchsal ist mit einer Collage aus Texten von und über Gudrun Ensslin, Mitbegründerin und eines der führenden Mitglieder der RAF, bei den Theatertagen vertreten: „Gudrun Ensslin – Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (So, 3.7., 17 Uhr, Schwurgerichtssaal im Landgericht). „Gespräche mit Astronauten“ der 1970 geborenen Stuttgarterin Felicia Zeller ist weniger abgehoben als der Titel vermuten lässt. Aus Osteuropa kommen vier junge Dinger als Au Pairs ins vermeintlich gelobte Land, treffen auf dauergestresste postmoderne Mütter, quakende Kinder und ihre eigenen Unzulänglichkeiten.
Das Stück eröffnete erfolgreich die aktuelle Saison am Nationaltheater Mannheim (So, 3.7., 19 Uhr, Schauspielhaus). „Otto der Großaktionär“ ist eine bissige Satire auf die Arbeitswelt von Gisela Elsner, in der Täter- und Opferrolle nicht ganz klar auszumachen sind. Die BLB-Inszenierung von Carsten Ramm zeigt Verhaltensmuster und Abhängigkeiten ungeschönt auf (So, 3.7., 20 Uhr, ZKM).
Weiters laufen:
Mo, 4.7., Mutter Courage und ihre Kinder von B. Brecht (20 Uhr, Schauspielhaus), Sechzehn Verletzte von E. Kraiem (20 Uhr, ZKM)
Di, 5.7., Der Besuch der alten Dame von F. Dürrenmatt (20 Uhr, Schauspielhaus), heimat.com von H. Schober (20 Uhr, ZKM), Fasten Seat Belts oder: Viel Glück zum Alltag! von J. Tätte (20 Uhr, Insel)
Mi, 6.7., Das wilde Kind von T.C. Boyle (18 Uhr, Insel), Der jüngste Tag von Ö. von Horváth (20 Uhr, Schauspielhaus), They call me Jeckisch von N. Gühlstorff und N. Steinhilber (20 Uhr, ZKM)
Do, 7.7., Die Stunde da wir nichts voneinander wussten von Peter Handke (20 Uhr, Schauspielhaus), Meier Müller Schulz oder: Nie wieder einsam! von M. Becker (20 Uhr, ZKM)
Fr, 8.7., supernova (wie gold entsteht) von Philipp Löhle (20 Uhr, Schauspielhaus), Kein Schiff wird kommen von N.-M. Stockmann (20 Uhr, ZKM)
Sa, 9.7., Theater für Eilige – Straßentheater (11 Uhr, Friedrichsplatz), Medea – Tragödie von Euripides (20 Uhr, Schauspielhaus), Nordost von T. Buchsteiner (20 Uhr, ZKM)
So, 10.7., Corpus delicti von Juli Zeh (19 Uhr, Schwurgerichtssaal Landgericht), Der Kaufmann von Venedig von W. Shakespeare (19 Uhr, Opernhaus).
Kinder- und Jugendtheater
Für die jüngsten Besucher gibt es bei den Theatertagen mit 18 extra auf sie zugeschnittenen Produktionen eine Art „Festival im Festival“, angereichert mit theaterpädagogischen Angeboten. Den Stellenwert dieser Offensive in Richtung junges Publikum zeigt nicht zuletzt auch die Tatsache, dass sich das humorvolle wie warmherzige Eröffnungsstück der Theatertage, Ulrich Hubs ausgezeichnetes „An der Arche um Acht“, an Zuschauer ab acht Jahren wendet. Zwei Pinguine dürfen auf die Arche Noah – doch was soll mit ihrem Freund, dem dritten Pinguin im Bunde werden? Gezeigt wird die Karlsruher Uraufführungsinszenierung in der Regie des Autors (Fr, 1.7., 19 Uhr, Nancyhalle).
Mit „Das hässliche Entlein“ kommt der Klassiker von Hans Christian Andersen in einer Schnawwl-Inszenierung auf die Bühne. Das Kinder- und Jugendtheater Mannheim ist die älteste kommunale Einrichtung ihrer Art und spielt hier für alle ab sechs Jahren (Sa, 2.7., 15 Uhr, Insel). „Und sie bewegt sich doch“ von Holger Schober rückt die Familie des großen Physikers Galileo Galilei ins Zentrum und ist für Jugendliche ab 13 Jahren zu empfehlen. Regisseur des Stückes ist Dominik Günther, der bereits 2009 am Zwinger3 in Heidelberg inszenierte (Sa, 2.7., 17 Uhr, Nancyhalle).
Wieder an die Kleinsten ab fünf Jahren richtet sich die Dreischweinchengeschichte „TülliKnülliFülli“ von Horst Hawemann, die vom jungen theater konstanz auf die Bühne gebracht wird (So, 3.7., 15 Uhr, Insel). „Pizza senza Mamma“ ist eine tragikomische Geschichte über die Sehnsucht nach echten Vätern, in der sich Erwachsene und Kinder langsam annähern. Das Junge Ensemble Stuttgart spielt hier für alle ab acht Jahren (So, 3.7., 17 Uhr, Nancyhalle). -er
Weiters laufen:
Mo, 4.7., Sterne von A. Hilling, 14+ (10 Uhr, Insel), Antigone oder das Begräbnis von Theben von S. Heaney, 15+ (19 Uhr, Nancyhalle),
Di, 5.7., Der faulste Kater der Welt von F. Biermann, 4+ (11 Uhr, Nancyhalle),
Mi, 6.7., Die mich jagen von E. Rottmann, 14+ (11 Uhr, Nancyhalle)
Do, 7.7., Die Geschichte von Lena von M. Ramløse und K. Elhauge, 8+ (10 Uhr, Insel), Anne und Zef von Ad de Bont, 13+ (11 Uhr, Nancyhalle), Mein Tuvalu von A.-K. Klatt, 4+ (15 Uhr, Insel),
Fr, 8.7., Edgar vom Stern von I. Schöier, 12+ (11 Uhr, Nancyhalle), Figuren- und Puppentheater Bonnie und Clyde von A. Gleichmann, 14+ (17 Uhr, Insel)
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